Die Schule ist nicht zum Lernen da, sondern…
Wann sich eine Lehrerin freut

Lehrerin ärgert sichLehrerin freut sich

Mein Sohn M. hat ein gutes visuelles Gedächtnis. Dies ist sehr praktisch, wenn es um Vokabeln-Pauken geht. Er braucht sich nur für einige Minuten ein Blatt Papier mit den Vokabeln anzuschauen, da kriegt er am nächsten Tag schon eine Eins im Vokabeltest. Oder, genauer gesagt, es war so am Anfang des fünften Schuljahres.

Seine Englischlehrerin, Frau R., war eine begeisterte Anhängerin vom Karteikartensystem. Sie verlangte, dass jeder ihrer Schüler jedes englische Wort auf eine einzelne Karte aufschrieb. Diese Karten waren in einer großen Karteibox aufzubewahren und ihr bei der ersten Anfrage zu präsentieren. Mein Sohn M. konnte natürlich nicht begreifen, wozu alle diese Komplikationen gut waren, und weigerte sich kategorisch, solchen Unsinn (wie er meinte) zu machen. Dafür wurde er von Frau R. regelmäßig bestraft. Er bekam eine große Menge von Strafarbeiten und Nachsitzen, die er allerdings meistens genauso ignorierte wie auch die Karteiführung.

Meine Frau ist in die Schule zum Gespräch mit Frau R. gegangen und hat die Frage gestellt: Warum sollte M. unbedingt die Vokabelkartei führen, wenn er sowieso immer eine Eins in den Vokabeltests hatte? Die Antwort war, erstens, dass alle Kinder gleich behandeln werden müssten und folglich keine Ausnahmen zu dulden waren, und, zweitens, dass M. nicht nur die englischen Wörter lernen brauchte, sondern auch die modernen Lernmethoden, die sich als die erfolgreichsten erwiesen hatten.

Der ungleiche Kampf zwischen M. und Frau R. eskalierte inzwischen immer weiter. Mein Sohn bekam einen Direktionsarrest, währenddessen er unter der Aufsicht von der Schulleiterin, Frau W., die Vokabelkarten auszufüllen hätte. Zu diesem Arrest ist er aber nicht erschienen. Da erhalten wir einen zornigen Brief von Frau W.

„Ein Schüler“, schrieb sie, „der sich bereits in der 5. Klasse derart konsequent unseren Anordnungen widersetzt, ist nicht hinnehmbar. M. wird daher zwei Tage vom Unterricht ausgeschlossen. Er darf an den solchen und solchen Tagen nicht am Unterricht teilnehmen.“

Damals war ich schon ziemlich unerfahren, was das deutsche Schulsystem betrifft. Es schien mir verrückt genug, dass ein Schüler, der gute Noten hatte, von der Schule verfolgt wurde, – aber die Strafe, die genau daraus bestand, wovon die Schulkinder eigentlich nur träumen könnten, kam mir noch komischer vor. Ich versuchte, diese merkwürdige Situation mit einigen meinen deutschen Bekannten zu besprechen. Ich erweckte damit aber kein Verständnis. Stattdessen guckten mich Leute eher seltsam an, als wäre es gerade ich, der hier irre war.

Nach Anforderung der Schulleitung kam ich auch zum Gespräch mit der Direktorin, Frau W. Auf klarem amtsdeutsch teilte sie mir mit, dass die Schule bezweifelt, ob ich meine Elternpflichten so wie es sich gehört erfülle. Wenn es so weiter ginge, meinte Frau W., würde die Schule erzwungen, das Jugendamt davon zu informieren.

Meine deutschen Bekannten haben mir dringend empfohlen, diese Androhung ernst zu nehmen. Es hieß, es wäre viel angenehmer, die Vokabelkarten auszufüllen, als vom Jugendamt geprüft zu werden. Die Englischlehrerin, Frau R., sah schon ihren baldigen Sieg voraus, und verlangte von M., das völlige Vokabular von dem fünften Schuljahr auf die Karten zu übertragen, etwa mehr als Tausend Wörter. Das war doch eine Arbeit für den ganzen Tag für die ganze Familie!

Für den nächsten Vokabeltest hat M. die Note fünf bekommen.
„Warum?“, fragte ich.
„Ich hab einfach die Schnauze voll von Frau R.“, antwortete er.

Zu dieser Zeit fand in der Schule irgendeine Sportveranstaltung statt. Fast alle Lehrer und Schüler waren draußen. Ich ging einfach vorbei und begegnete zufällig Frau R. Da rief sie mich freundlich an.

„Herr K., ich bin jetzt mit ihrem Sohn M. sehr zufrieden“, sagte sie mit einem strahlenden, frohen Lächeln. „Er hat mir alle Wörter vorzeigen können!“

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